Matties Vater stammte ursprünglich aus Sokolov, einer kleinen Stadt in Polen. Als er drei Jahre alt war, zog Matties Vater mit seinen Eltern nach Düsseldorf. Um 1934 kamen er und sein Bruder nach Maastricht. Matties Vater gründete in Maastricht ein »Ratengeschäft«. Sie verkauften Textilien auf Raten an Bergarbeiter.
Matties Mutter stammte aus einer orthodoxen Familie. Ihr Vater arbeitete als Lehrer und Schlachter für die jüdische Gemeinde in Maastricht. Wenn auch nicht offiziell, war Matties Großvater ein Rabbiner. Seine Großeltern wohnten neben der Synagoge, in der Mattie als Kind oft spielte. »Freitags gingen alle Juden auf den Markt, um Hühner zu kaufen. Die musste mein Großvater dann koscher schlachten. Manchmal flatterten die Hühner noch herum. Einmal flog eines aufs Dach und landete in der Regenrinne.«
Mattie war fünf, als er untertauchte. Seine Familie ist erst spät untergetaucht. Die jüdische Gemeinde hatte seinen Vater zur Vertrauensperson für die Deutschen bestimmt. Sie erhielten eine »Sperre«, eine vorübergehende Freistellung von der Deportation. Die Familie Tugendhaft gehörte daher zu den letzten in Maastricht, die untertauchten.
»Die Rucksäcke lagen bereit, aber im entscheidenden Moment hatten wir keine Adresse. Eines Tages ging mein Vater zur Post, um ein Paket an Verwandte in Westerbork zu schicken. Da tippte ihm ein Mann auf die Schulter.
›Ich sehe, dass Sie Jude sind‹, sagte der Mann – mein Vater trug einen Judenstern. ›Dürfen Sie denn noch frei auf die Straße?‹
›Nein‹, sagte mein Vater, ›eigentlich nicht.‹
›Müssen Sie dann nicht untertauchen?‹
›Ja‹, antwortete mein Vater, ›das würde ich gerne, aber ich habe keinen Platz.‹
Da sagte der Mann: ›Ich komme heute Abend bei Ihnen vorbei.‹«
Lange nach dem Krieg stellte sich heraus, dass dieser Mann ein Mitglied von Jo Lokermans Widerstandsgruppe war. Mattie: »Die gesamte Widerstandsgruppe wurde später von einer Hure verraten, die etwas mit dem Ortskommandanten von Maastricht hatte.«
An einem dieser Abende saß Mattie mit seiner Schwester auf dem Schoß seines Vaters.
»Mein Vater sagte, dass wir für eine Weile weg mussten, weil die deutschen Soldaten uns töten wollten, da wir Juden waren. Ich musste meinen Namen ändern und durfte selbst einen auswählen. Ein netter Junge vom Kindergarten hieß Mattie. Der Name gefiel mir.« Sein neuer Nachname war Gevers, genau wie der seiner Mutter.
Mattie hat diesen neuen Vornamen immer behalten. Er hatte sich nach dem Krieg daran gewöhnt. Eine Haushälterin, die eine Schwester in einem flämischen Kloster hatte, nahm Matties Schwester mit. Matties Eltern tauchten bei der Familie Koole unter. Sie betrieben eine bekannte Konditorei in Maastricht, in der die Deutschen kostenlos Kuchen essen durften. Dort kam auch Matties kleiner Bruder Bennie zur Welt.
Mattie wurde von »Tante Nellie« abgeholt, einer Vermittlungsperson, die ihn während der Zeit des Untertauchens an etwa zehn verschiedene Adressen in Südlimburg brachte. Bis auf eine Ausnahme hatte Mattie während des Untertauchens eine relativ gute Zeit.
Die Ausnahme war sein Aufenthalt bei einer Familie auf einem Bauernhof in De Weerd, einer kleinen Stadt an der Maas, nicht weit von Roermond entfernt. »Ich wurde dort furchtbar misshandelt. Nellie wusste davon nichts.«
Mattie schlief im Zimmer der anderen Kinder der Familie: zwei Söhne und zwei Töchter, die viel älter waren als er.
»Gegen 5 Uhr morgens ging die Bauersfrau melken. Eines Tages holte mich der Bauer aus dem Bett und brachte mich auf den Dachboden, wo er mich nackt im Kreis rennen ließ. Irgendwann packte er mich am Hals und hängte mich an einem Stück Seil an den Balken, bis ich praktisch bewusstlos war. ›Wenn die Deutschen dich erwischen‹, sagte er, als er mich wieder herunterholte, ›dann tun sie das mit dir.‹«
Diese Folterungen versetzten Mattie in Panik. Er wollte nie wieder mit diesem Mann allein sein. Doch auch der Rest der Familie machte mit. »Eines Tages banden sie mich an einem Kalb fest, das sie über die Wiese springen ließen. Ich hing dahinter und brach mir ein Bein. Die Familie stand dabei und lachte.«
Einmal brachte der Bauer Mattie zu einem Wassergraben hinter den Feldern in der Nähe der Maas. »Mitten im Winter bin ich in meiner Unterhose dorthin gegangen. Das war wirklich unangenehm. Er drückte mich in den Wassergraben und hat mich praktisch ertränkt.«
Als Mattie ein entzündetes Ohr hatte, versuchte der Bauer, die Entzündung mit einem Brotmesser aufzuschneiden. »Er hat mein Ohr komplett verunstaltet. Nach dem Krieg musste ein plastischer Chirurg es wieder herrichten. Es war immer noch entzündet, irgendwo ganz abgekapselt.«
Die Bauersfrau kontaktierte Nellie, die Vermittlerin. Sie nahm Mattie mit nach Maastricht zu sich nach Hause, weil sie nicht sofort eine neue Adresse für ihn hatte. Die Widerstandsgruppe, die die Untertauchplätze organisierte, ließ seine Eltern eines Abends während der Ausgangssperre zu Mattie kommen. »Es war furchtbar für sie, mich so zu sehen, mit dem verunstalteten Ohr. Ich schien unaufhörlich geweint zu haben. Ich wollte, dass meine Eltern bei mir bleiben, aber das ging nicht.«
Daraufhin wurde Mattie von »Tante Mien« und »Onkel Albert« aufgenommen, die ihn äußerst liebevoll umsorgten.
Am 17. September 1944 wurde Klimmen befreit. Matties Eltern kamen sofort zu ihm. »Plötzlich standen sie im Garten von Tante Mien. Ich spielte in einem Zelt. Tante Mien wurde emotional. Sie hatte keine eigenen Kinder und ich war ihr ans Herz gewachsen. Meine Eltern beschlossen, mich noch ein paar Tage dort zu lassen, um der Familie Lemlijn den Abschied zu erleichtern.«
Die Familie Tugendhaft hat die Zeit des Untertauchens relativ gut überstanden. »Meine Eltern und Großeltern haben überlebt. Meine Schwester Trinette auch. Als sie nach Hause kam, erkannte sie meinen Vater und meine Mutter nicht wieder und wir konnten sie nicht verstehen. Sie sprach nur noch Französisch. Mein kleiner Bruder Bennie war nach dem Krieg der erste jüdische Junge, der beim Standesamt registriert wurde.«
Der Rest seiner Familie großmütterlicherseits, die Familie De Liver, wurde vollständig ausgelöscht.
Matties Vater besuchte später alle Untertauchadressen, um die Unkosten zu erstatten. Doch kaum jemand wollte etwas annehmen. Außer dem Bauern, der ihn misshandelt hatte. »Er wollte sich von dem Geld einen neuen Hof kaufen.
Meine Mutter hat mir die Geschichten über den Missbrauch nie geglaubt.
›So schlecht kann ein Mensch nicht sein‹, sagte sie. ›Das ist ein böser Traum. Das ist alles ein böser Traum.‹ Das hat mich sehr belastet. Sie konnte mir einfach nicht glauben.«
Jahrzehnte später machten sich Mattie und sein guter Freund Jos aus Roermond auf die Suche nach den Orten, wo er untergetaucht war. Jos, der die Gegend gut kannte, schlug vor, in die Kneipe von De Weerd zu gehen. Die Besitzer des Lokals in De Weerd hatten sich während der Kriegszeit darum bemüht, Juden beim Untertauchen zu helfen. Vielleicht konnten sie ihnen weiterhelfen. Diese Leute waren natürlich schon lange verstorben. Die Tochter, auch schon in den Achtzigern, leitete das Lokal inzwischen. Vielleicht wusste sie ja etwas.
›Ja‹, sagte sie, ›auf dem Bauernhof war ein jüdischer Junge, der furchtbar misshandelt wurde.‹
Mir liefen kalte Schauer über den Rücken. Das war der Moment, in dem der Missbrauch an mir bestätigt wurde. ›Dieser Junge bin ich.‹«