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Tante Nelly

Leni de Vries, geboren in Neede am 20. Februar 1938

Neede (Provinz Overijssel)

Lenis Vater, Philip de Vries, hatte vor dem Krieg eine koshere Metzgerei, in der ausschließlich Rindfleisch verkauft wurde. Er war mit Henriëtte Frankenhuis verheiratet. Leni hat einen Bruder, der fast vier Jahre jünger ist und Zwillingsschwestern, die fast zwei Jahre jünger sind.

Das Judentum bestand für mich aus der Geborgenheit, die meine Großmutter mir gab. Eine große Frau in einem Kleid voller Flecken, an dem eine große silberne Brosche befestigt war.
Ich kroch gerne auf ihren Schoß. Dieses Kleid war etwas Besonderes für mich, es hatte einen ganz außergewöhnlichen Braunton, irgendwie dunkel bronzefarbene, das Wärme ausstrahlte. Ich habe später nie wieder diese Art von Braun gesehen.

Im September 1942 erhielt Familie de Vries von jemand aus dem Widerstand den Rat unterzutauchen. Leni wurde vom örtlichen Frisör, Herrn Grunnekemeijer, zu Pfarrer Leendert Overduin gebracht, der im Krieg für sehr viele Juden einen Unterschlupf fand.

Enschede, Dr. Kuyperplein (Provinz Overijssel)

Leni kam zu einer Familie mit fünf Kindern, wo es ihr sehr schlecht erging.

Die Familie hat mich ständig spüren lassen, dass ich kein Kind von ihnen war. Ich war ein dunkles Kind, dessen Augenbrauen in der Mitte zusammenwuchsen. Wahrscheinlich dachten sie, dass ich so zu sehr wie ein typisch jüdisches Kind aussah. Jedenfalls haben sie mir nahezu unmittelbar nach meiner Ankunft diese Stelle zwischen den Augenbrauen geschoren. Ohne mir irgendetwas zu erklären. Für mich war es, als hätte ich mein „Ich“ verloren.

Wenn Leni ihren Teller nicht schnell genug leer aß, nahm man ihn ihr weg. Ihre Milch wurde mit Wasser verlängert und wenn etwas schief ging, gab man grundsätzlich ihr die Schuld. Sie wurde auch geschlagen.

Samstags wusch Tante Nelly uns ausgiebig. So nannte ich sie, Tante Nelly, ich habe sie nie Mutter oder Mama genannt. Wir wurden in der Küche gewaschen, es gab keine Dusche. Ich musste auf einem gelben Küchenstuhl stehen – ich reagiere noch immer allergisch auf gelbe Stühle. Bevor sie anfing, mich auf sehr grobe Art zu waschen, verpasste sie mir erst aus völlig unersichtlichem Grund so viele Schläge, dass ich bis zum darauffolgenden Samstag grün und blau war.

Enter (Provinz Overijssel)

Als das sechste Kind zur Welt kam, wurde Leni vorübergehend bei dem etwas älteren Ehepaar Van Veldhuyzen van Zanten untergebracht. Sie waren lieb zu ihr und Leni hatte das Gefühl, als sei sie von Hölle in den Himmel gekommen. Sie ging dort auch zur Schule. Als ein Mal eine Razzia drohte, musste Leni sich in einem Raum verstecken, zu dem sie durch eine Luke unter dem Schrankboden gelangte.

Ein Mal, als ich Zeit in diesem Raum verbrachte, musste ich furchtbar dringend zur Toilette. Da gab es jedoch nichts, das einem Töpfchen ähnelte. Ich fand ein mit rotem Garn abgesetztes, orangegelbes Staubtuch. Dieses Staubtuch legte ich auf den Boden und pinkelte darauf. Erstaunlicherweise wurden sie nicht mal böse auf mich, als sie mich wieder rausholten. Im Gegenteil, sie lobten mich dafür, dass ich das Staubtuch benutzt hatte.

Enschede, Dr. Kuyperplein (Provinz Overijssel)

Gegen Ende des Krieges musste Leni wieder zurück nach Enschede, wo sie bis zum Ende des Krieges blieb.

Ich konnte mich nach dem Krieg nur noch schwer an Menschen binden. Während des Krieges hatte ich oft großes Verlangen nach meinen Eltern, aber als ich wieder zu Hause war, schien etwas kaputtgegangen zu sein. Es ging einfach nicht mehr. Meine Mutter konnte mir auch nicht länger wirklich ein Gefühl der Geborgenheit geben. Als ich selbst Kinder bekam, fand ich es am Anfang sehr schwer sie an mich zu drücken. Auch Freunde und Verwandte umarmte ich nicht. Irgendwann habe ich es einfach gemacht, weil ich merkte, dass man die Umarmung sehr zu schätzen wusste. Das Gefühl der Wärme ist dadurch jedenfalls besser geworden. Ich habe das erneut lernen müssen.