Hanneke war vier Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Ihr Vater war bei der Flugabwehr. Sie hat nur wenige Erinnerungen an ihn. »Im Mai 40 besuchten wir ihn. Ich saß bei meiner Mutter hinten auf dem Fahrrad. Ein deutsches Flugzeug flog im Tiefflug über uns hinweg. Sie schossen auf Menschen. Meine Mutter warf das Fahrrad zu Boden und zog mich in den Graben. So begann für mich der Krieg.«
Bei Hanneke zu Hause spielte das Judentum kaum eine Rolle. Erst als Ende 1941 der Judenstern obligatorisch wurde, bekam das Jüdischsein eine Bedeutung. »Ich durfte nicht mehr zum Schwimmunterricht, nicht mehr mit Opa und Oma in den Zoo und nicht mehr mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft auf der Straße spielen.«
Hannekes Vater hatte zusammen mit ihrem Großvater eine Druckerei: Lithographie Lankhout. Doch Juden durften keine eigenen Geschäfte mehr führen. Es kam ein »Verwalter«. Ein den Deutschen zugewandter arischer Niederländer, der die Leitung des Unternehmens übernahm.
Als die Lage für die Familie immer gefährlicher wurde, bot Tante Zus (das Pseudonym der Widerstandskämpferin Ru Paré, einer Künstlerin und Freundin der Familie) ihre Hilfe bei der Suche nach Untertauchadressen an. »Eines Tages, im Frühling 42, sagte meine Mutter: ›Hanneke, du übernachtest auswärts.‹ Hier in Den Haag darfst du nicht mehr draußen spielen. Du gehst in den Norden des Lades, wo nicht so viele Moffen sind (niederländisches Schimpfwort für die Deutschen). Dort darfst du wieder draußen spielen.‹«
Hannekes Mutter ist in Limburg untergetaucht und auch ihr kleiner Bruder wurde an eine Adresse in Limburg gebracht. »Mein Vater beschloss, nicht unterzutauchen. ›Ich kann nicht in einer Dachkammer sitzen‹, sagte er zu meiner Mutter. ›Ich würde zur Gefahr für mich selbst und andere.‹«
Tante Zus brachte Hanneke mit dem Zug nach Ter Apel. »Wir saßen in einem Abteil mit zwei mal vier Personen. Während der Zugreise sagte ich: ›Tante Zus, ich bin draußen und habe keinen Stern auf meiner Jacke. Das ist doch verboten?‹
›Hanneke‹, sagte Tante Zus schnell, ›bei der nächsten Haltestelle steigen wir aus, wir sind da.‹
Lektion 1 des Untertauchens: ›Sprich nie mehr über den Stern, sonst wissen sie, dass du Jüdin bist. Die Deutschen suchen nach Juden und werden dich erschießen.‹
Da wurde ich mir der Gefahr zum ersten Mal richtig bewusst.«
In Ter Apel durfte Hanneke wieder nach draußen. Sie war stolz darauf, dass sie bereits lesen konnte und las draußen anderen Kindern vor. Das erregte viel zu viel Aufmerksamkeit.
Tante Zus bekam einen Anruf. »›Hanneke‹, sagte sie, ›wie schön, dass du schon lesen kannst, aber vorlesen solltest du nicht mehr. Kinder, die mit sechs Jahren schon vorlesen können, fallen zu sehr auf.‹« Hannekes Haar wurde gebleicht, da sie einen auffällig dunklen Lockenschopf hatte.
Insgesamt wechselte Hanneke ihren Aufenthaltsort zwölf Mal. Jedes Mal bekam sie wieder einen anderen Nachnamen: »Wenigstens durfte ich immer Hanneke bleiben. Der Nachname variierte: Lankhout, Lankhorst, Langedam, Lankhuizen, ich habe so ziemlich jeden Namen gehabt, der mit ›Lan‹ beginnt.«
Tante Zus brachte Hanneke jedes Mal eine neue Geschichte bei und hämmerte ihr ein, ihre wahre Herkunft zu vergessen. Unterwegs wiederholten sie die neue Geschichte so oft, dass Hanneke sie ganz natürlich erzählen konnte.
Am schwierigsten fand Hanneke, immer »brav« zu sein. Bei einer Pfarrfamilie ging das auch einmal schief. Hanneke musste dort im Keller sitzen und durfte nur sonntags hoch zum Essen. Dann wurde ein Steak gebraten. »Nachdem der Pfarrer das Steak fein säuberlich in Scheiben geschnitten hatte, fragte ich: ›Herr Pfarrer, Sie haben mir von Jesus erzählt. Jesus sagt doch, dass wir alles gerecht teilen sollten? Warum behalten sie dann das größte Steakstück für sich?‹
Der Pfarrer wurde sehr wütend: ›Du undankbares jüdisches Kind! Du hast gar nichts verstanden. Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen?‹«
Von Mai 1944 bis zur Befreiung am 17. September 1944 tauchte Hanneke in Eerde, in der Nähe von Veghel, unter. Pater Verhoeven, ein Bekannter von Tante Zus, brachte sie zu Onkel Jan und Tante Joske. Sie waren noch nicht lange verheiratet, und Tante Joske hatte bereits zwei Fehlgeburten hinter sich. Zunächst wollten sie kein Kind bei sich verstecken. Pater Verhoeven sagte: »Dieses Mädchen ist wirklich in Gefahr. Sie braucht Hilfe. Wenn ihr sie aufnehmt, bete ich mit allen Schwestern des Klosters, dass Joske keine weitere Fehlgeburt erleidet.« Einige Monate später kam das Baby, Regientje, zu Welt.
»Ich durfte wieder draußen spielen, zur Schule und musste mir nicht mehr die Haare färben. Das war schön, denn das Bleichmittel brannte so schrecklich in den Augen. Als ich zum ersten Mal in meine neue Klasse kam, sagte meine Lehrerin, Frau Van der Bult: ›Wir haben ein neues Mädchen in der Klasse. Seid ein bisschen nett zu ihr. Sie ist nämlich sehr traurig, weil ihre Eltern bei der Bombardierung von Rotterdam ums Leben gekommen sind. Sie ist ein Waisenkind, sie hat keine Eltern. Jetzt wohnt sie hier.‹«
Einmal musste Hanneke auch mit dem Hund in der Hundehütte schlafen, weil es hieß, es werde Durchsuchungen geben. In Eerde waren noch mehr Menschen untergetaucht.
Am Geburtstag ihrer Mutter durfte Hanneke ihr einen Brief schreiben, den Tante Zus mitnehmen würde. »Ganz unten schrieb ich: ›Houdoe, Hanneke‹. Dieser Brief kam bei meiner Mutter an, aber ohne Ort und Datum. Die hatte Tante Zus nämlich sorgfältig abgeschnitten.«
Am Sonntagabend, dem 17. September 1944, brachen heftige Kämpfe aus. Hanneke floh mit Tante Joske nach Veghel. »Ich saß verkehrtherum auf dem Fahrrad und zog den Kinderwagen, in dem Regientje lag, hinterher. Als die Flugzeuge über uns hinwegflogen, sprangen wir vom Fahrrad und krochen in ein Abwasserrohr. So sind wir nach Veghel geflohen.«
Nach der Befreiung blieb Hanneke eine Zeit lang auf einem Bauernhof in Mariaheide, in der Nähe von Veghel. Eines Nachmittags spielte sie mit den anderen Kindern auf dem Hof. »Aus dem Augenwinkel sah ich eine fremde Frau den Hof betreten. Die Frau warf ihr Fahrrad hin und schrie: ›Hanneke!‹. Ich erkannte ihre Stimme sofort. Da wusste ich: Der Krieg ist jetzt wirklich vorbei. Meine Mutter ist zurück.« Die Mutter hatte Hanneke dank des Wortes »Houdoe« gefunden, das in Teilen von Brabant verwendet wird. Sie fragte in allen Pfarrhäusern nach, ob sie eine Hanneke kannten.
»Der Pfarrer in Veghel sagte: ›Nein, hier wohnt keine Hanneke. Aber in Eerde schon. Dort ist jetzt aber niemand mehr. Da wurde alles zusammengeschossen. Die meisten Bewohner von Eerde sind in Mariaheide.‹ Dank des Codeworts ›Houdoe‹ hat meine Mutter mich wiedergefunden.«
Hannekes kleiner Bruder, Paul, war in Grubbenvorst. Das wusste Hannekes Mutter. Er kam auch nach Veghel.
Das gefiel Paul nicht. Er war als Zweijähriger nämlich in einer großen Familie mit sieben Kindern und jeder Menge Hühnern und Kühen untergetaucht. Einmal sagte er: »Hanneke, ich glaube ja, dass du meine Schwester bist, aber was ist mit Mama? Hat Mama mich bei Mutter gekauft?«
Hannekes Vater hat den Krieg nicht überlebt. Er wollte sich den Engelandvaarders anschließen, wurde aber unterwegs erwischt.
»Selbst als ich dann in Den Haag wieder zur Schule ging, glaubte ich immer noch, dass er irgendwann zurückkommen würde. Vielleicht hatten die Russen ihn als Kriegsgefangenen genommen. Oder er war in einem Konzentrationslager gelandet und wurde von den Russen befreit.
Eines Tages gab mir meine Mutter den letzten Brief, den mein Vater aus Paris geschickt hatte. Darin erzählt er von der Kette der Widerstandskämpfer, die immer wieder irgendwo unterbrochen wird. Und dass er auf einer Bank am Bahnhof schläft. Der Brief war meiner Mutter damals über Tante Zus zugestellt worden. Er endete mit den Worten: ›Das könnte vielleicht mein letzter Brief sein.‹«