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Zum Glück alle Jungs

Lies Elion, geboren am 28. Februar 1931 in Amsterdam

Amsterdam, #115hs Stadionkade

Lies wuchs in einer vierköpfigen Familie auf. Sie hatte eine Schwester, Selly, die gut sieben Jahre älter war als sie. Ihr Vater Jacobus Elion war Diamantenhändler. Die Familie war nicht religiös und Vater Elion fand Assimilation sehr wichtig. Als der Krieg ausbrach, wollte die Familie über IJmuiden nach England fliehen.

Auf dem Weg dorthin, erfuhren sie, dass das letzte Boot bereits abgelegt hatte. Lies' Mutter, Bertha, war eigentlich erleichtert, denn sie fand es furchtbar schwer, sich von ihrem Zuhaue zu verabschieden. Als alle jüdischen Kinder die Schulen verlassen mussten, ging auch Lies an eine jüdische Schule, wo sie sich ziemlich heimatlos fühlte.

Überall war ich eine Außenseiterin, sowohl bei den Juden als auch bei den Nichtjuden. Es verschwanden immer mehr Kinder, auch meine beste Freundin, Gertie van Berg, mit der ich täglich zur jüdischen Schule lief. Wir haben regelmäßig Päckchen mit Essenswaren nach Westerbork geschickt. 1942 bekamen wir eine Karte von ihr, in der sie sich verabschiedete: ‘Wir sind auf dem Weg nach Polen.’

Im Juni 1943 wurde Familie Elion bei einer Razzia festgenommen und über den Bahnhof Muiderpoort in Amsterdam und die Hollandsche Schouwburg nach Westerbork transportiert. Selly, Lies’ Schwester, war davon überzeugt, dass sie sich nicht den Deutschen ausliefern durften. Sie entkam vom Bahnsteig am Bahnhof Muiderpoort und flüchtete sich zu ihrem Freund Mark. Sie tauchten gemeinsam unter. Familie Elion durfte Westerbork, wieder verlassen. Vielleicht hing das damit zusammen, dass Vater Elion Diamanthändler und im Besitz einer Sperre war. Selly und ihr Freund Mark wurden bei der Adresse, wo sie untergetaucht waren, verraten und landeten als Straffall in der Hollandsche Schouwburg. In Sellys Adressbuch fanden die Deutschen auch die Adresse der Familie Elion, die sofort wieder verhaftet wurde. In der Hollandsche Schouwburg bot man Lies und ihrer Schwester die Möglichkeit zu entkommen. Aber beide lehnten es ab, weil sie be-fürchteten, sich gegenseitig und die Eltern in Gefahr zu bringen. Aus un-durchsichtigen Gründen durfte Lies mit ihren Eltern wieder nach Hause zu-rückkehren. Selly und ihr Freund Mark wurden nach Auschwitz deportiert.

Nieuw Vennep

Am 29. September 1943 wurde Lies auf der Straße gewarnt, dass gerade ein große Razzia stattfand. Mithilfe von Familie de Swaan an der Stadionkade wurde nach einer Adresse gesucht, wo sie untertauchen konnten. Lies wurde von Hannes Boogaard mitgenommen. Ihre Eltern wurden zu einer anderen Adresse gebracht.

Auf dem Bauernhof von Hannes Boogaard in Haarlemmermeer (Noord-Holland) bekam ich einen Ehrenplatz. ‘Komm, setz dich neben mich, Kind,’ sagte er. Er tröstete mich und war voller Verständnis. Später zeigte er mir einen Alkoven voller Kinder - alles jüdische Kinder, die dort untergetaucht waren - und sagte: ‘Verstehst du, dass du hier nicht bleiben kannst?’

Lies wurde zu einer anderen Familie in Haarlemmermeer gebracht. Eigentlich wollte man dort jemanden haben, der älter war und im Haushalt helfen konnte.

Als Haushaltshilfe haben sie mich dort gründlich ausgenutzt: neben allen möglichen täglichen Arbeiten musste ich ein Mal pro Woche alle Möbel einwachsen. Dazu mussten die Möbel alle von ihrem Platz gerückt werden, das war furchtbar schwer. Ich lag jede Nacht weinend im Bett.

Hillegom, Stationsweg

Als eine Razzia drohte, wurde Lies zu Familie ten Hoope in Hillegom gebracht, wo auch ihre Eltern untergebracht waren. Wenn Besuch kam, mussten sie sich in einem Kellerschrank verstecken, bis die Leute wieder weg waren. Nach kurzer Zeit mussten sie an eine andere Adresse in Hillegom umziehen. Auch da konnten sie nicht bleiben.

Danach kamen wir an eine zweite Adresse in Hillegom, wo wir Hals über Kopf weg mussten, weil der Name unseres Gastgebers im Terminkalender von jemand stand, der beim Schmuggeln erwischt worden war. Wir waren in Panik. Es gab keine andere Adresse.

Hillegom, Hotel Vogelenzang

Völlig ratlos betrat Vater Elion in Vogelenzang ein Hotel und bat um Hilfe. Der Eigentümer stimmte zu unter der Bedingung, dass wir uns wie „normale“ Hotelgäste verhalten würden.

Wir aßen also ganz normal im Speisesaal. Und das ging gut, bis sich ein SS-Mann an den Tisch neben uns setzte. Vor lauter Anspannung bekamen wir kaum einen Bissen runter. Wir wagten uns nicht ihn anzuschauen und starrten nur die ganze Zeit auf unsere Teller. Es passierte jedoch nichts.

Hillegom

Nach zehn Tagen in diesem Hotel wurde ein neuer Unterschlupf gefunden, bei Frau Wisse in Hillegom.

Auf einem Innenhof liefen wir im Kreis, um ein wenig in Bewegung und warm zu bleiben. In der Mitte des Hofes stand eine Tonne mit Kaninchenfutter. Alle paar Runden steckte mein Vater die Hand in die Tonne und nahm etwas von dem Futter: „Mmmm,“ sagte er, „was für eine herrliche Mahlzeit!“ Er machte ein wahres Schauspiel daraus, aber er hatte einfach Hunger.

Lies’ Eltern machten sich große Sorgen um das Schicksal von Selly, sie standen unter extremer Anspannung. Und Familie Elion musste wieder zu einer anderen Adresse.

De Zilk, Zilkduinweg

Man fand ein neues Versteck bei Familie Pos in de Zilk. Dort hatten bereits einige Juden Unterschlupf gefunden.

Wir blieben ein paar Wochen dort, bis Frau Pos zu meiner Mutter sagte: ‘Auch wenn's mir schwer fällt, muss ich dir sagen, dass ihr besser eine andere Adresse suchen könnt.’ Als meine Mutter fragte, warum, sagte sie: ‘Dein Mann schaut so düster drein. Wir können sein Gesicht nicht mehr ertragen.’

Zilkduinweg, De Zilk

Familie Rooyakkers, die ein paar Häuser weiter wohnte, war bereit, Familie Elion bei sich untertauchen zu lassen. Dort konnten sie bis zum Ende des Krieges bleiben.

Als eines Morgens die Nachricht von der Befreiung kam, ist mein Vater in Pantoffeln bis nach de Zilk gelaufen – er konnte es einfach nicht glauben. Dort hingen Pamphlete an Bäumen, worauf stand, dass wir befreit waren. Er nahm so ein Papier für uns mit. Eine Stunde später, als wir gemeinsam beim Kamin der Unterschlupfadresse standen, sagte er zu mir: „Liesje, du bist jetzt nicht mehr Liesje Evers, du bist jetzt wieder Liesje Elion.

Selly und ihr Freund Mark waren beide in Auschwitz ermordet worden.

Ich habe oft versucht, meinen Eltern ihre Trauer zu nehmen, ein Ersatz für meine Schwester zu sein. Aber das war unmöglich. In anderen Momenten sagte ich: ‘Hört mal, ich bin noch da.’ Wenn ich das sagte, lautete die Antwort meiner Mutter: ‘Zu jemandem, dessen Bein amputiert wurde, sagt man auch nicht: Sei froh, dass du das andere noch hast.’ Das musste ich mir etwa vier Mal anhören.